LeseProbe 1 - "Der Dampf kommt"
Hansl und Seppe sahen den Zug aus zwei Gespannen als erste. Die Jungen waren furchtbar aufgeregt und stolz, dass es gerade auf ihrem Hof zu der ersten Vorführung kommen würde.
„Der Dampf kommt“,
riefen sie so laut sie nur konnten. Vier Ochsen zogen von Vohenstrauß kommend, einen schweren vierräderigen Wagen mit einem schwarzen übermannshohen Aufbau, den Dampfkessel, die Straße entlang. Gefolgt wurde er von einem weiteren vierräderigen Wagen mit einem mächtigen hölzernen Aufbau, der leichter zu sein schien, da ihn nur zwei Ochsen zogen. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die Gefährte in den Hof rollten und sich im Abstand von drei bis vier Metern hintereinander einen ebenen Standort suchten. Die Ochsen wurden ausgespannt. Sie waren nur für diesen Transport gebucht und wurden von ihren Treibern wieder Richtung Heimat bewegt. Währenddessen drängten die Anwesenden immer dichter um die Geräte, deuteten und diskutierten über die Bedeutung des Ventils, der Temperatur- und Druckanzeige oder wie das mächtige Schwungrad in Bewegung gebracht werden sollte. Zwei Personen standen mit wichtiger, abgeklärter Mine etwas abseits, der Heizer, der für den Kessel zuständig war und der Maschinist der die Dreschmaschine bediente. Der Maschinist war es auch, der nach einer Weile über die angenagelte Leiter auf die Dreschmaschine kletterte. Dann richtete er sich gewichtig an die Anwesenden:
„Mir ist gesagt worden, dass in dem Ort zum ersten Mal eine Dampfdreschmaschine zum Einsatz kommt. Darum will ich euch einiges erklären. Also passt`s gut auf. Ich bin der Maschinist. Solange die Maschinen laufen, ist auf mein Kommando zu hören und zwar sofort. Die Arbeit ist viel zu gefährlich, als dass man lange diskutieren könnte.“
Nachdem er sich durch eine kurze Redepause vergewissert hatte, dass seine Worte bei den andächtig Lauschenden die nötige Wirkung erzeugten, fuhr er fort:
„Da drüben steht der Rochus. Er ist der Heizer und für den Dampf verantwortlich. Wenn der Dampfkessel geheizt ist, darf sich ihm niemand auf drei Mannslängen nähern, außer er bekommt ein Zeichen. Zuerst muss der Kessel mit sauberem Brunnenwasser gefüllt werden. Außerdem braucht`s Reisig zum Anzünden und etliche Scheite von dem Holz wie es für den Backofen hergerichtet ist. Dann darf der Rochus nicht mehr gestört werden, weil er das Feuer und den Dampf immer im Auge behalten muss. Wenn das Feuer zu stark und der Dampfdruck zu hoch werden, fliegt uns der Kessel um die Ohren. Wird das Feuer zu schwach und der Druck zu wenig, dann bewegen sich die Maschinen nicht mehr richtig.“
„Stimmt`s Herr Heizer“
wandte sich der Maschinist scherzhaft an den Angesprochenen.
Der entgegnete nur:
„Das will ich meinen“
und teilte gleich einige Umstehende in Gruppen ein, die die meterlangen Holzscheite herbeischaffen und den Kessel mit Wasser füllen mussten.
„Zwischen der Dampfmaschine und der Dreschmaschine hat sich auch niemand aufzuhalten“,
fuhr der Maschinist fort.
„Dort läuft der Riemen von einem Schwungrad zum anderen und treibt die Dreschmaschine an. Es kommt schon mal vor, dass der reißt und kräftig um sich schlägt. Wer sich dann in der Nähe aufhält und nur ein paar rote Striemen erhält, hat noch Glück gehabt. Drei Weibsbilder kommen auf den Wagen, wo ich jetzt stehe und schieben die Getreidebüschel in die Öffnung. Sobald die Büschel zur Hälfte drin sind, werden sie von der Maschine automatisch weiter gezogen. Es ist nur aufzupassen, dass man nicht in die Öffnung hineingreift. Sechs Mannsbilder holen die Getreidebüschel und spissen sie mit der Gabel herauf, möglichst ohne jedes Mal in die Frauen da heroben hineinzustechen. Fünf oder sechs Frauen nehmen an der hinteren Seite das Stroh weg und bringen es gleich in den Stadel. Wenn genügend Leute da sind, kann es gleich richtig in die Ecken und Verschläge geschoppt werden. Der Bauer und der Knecht sind an der vorderen Seite zuständig, dass die Säcke richtig befestigt sind und dass die vollen Säcke rechtzeitig gegen leere ausgetauscht werden. So, und jetzt fangen wir an. Als allererstes holt`s mal eine Anzahl von Getreidebüscheln damit dann alles richtig anläuft.“
Damit kletterte er von seinem Kasten herunter und teilte die Arbeits-gruppen ein. Maria musste mit zwei weiteren Mädchen auf den Wagen. Die anderen Gruppen stellten sich bereit. Vom Dampfwagen holte er den langen Antriebsriemen herunter und legte ihn über die beiden Schwungräder. Dann mussten alle Helfer die Dreschmaschine zurückschieben, bis der Riemen gespannt war. Mit großen Holzscheiten wurde der Wagen gesichert. Der Heizer hatte im Kessel bereits Feuer gemacht. Immer wieder öffnete er die große Ofentür und legte neues Holz nach. Sein Gesicht zeigte schon schwarze Spuren von Asche und Ruß. Aufmerksam beobachtete er die Armaturen, die mit großen Zeigern Temperatur und Dampfdruck anzeigten. Sobald er zufrieden war, zog er an einer kleinen Kette und ein durchdringender Pfiff riss alle Helfer aus ihrer aufgeregten Spannung. Zusammen mit dem Maschinisten hatten der Bauer und der Knecht mittlerweile vier Leinensäcke an den Öffnungen angebracht, aus denen die Körner rieseln sollten. Der Maschinist stand bereits wieder auf dem Wagen, auf den bereits die ersten Kornbüschel hinaufgereicht wurden. Die drei Mädchen steckten die Büschel in die Öffnung aus der es nach einiger Zeit gewaltig staubte. Sie waren vorsichtig darauf bedacht nicht hineinzugreifen und doch fasziniert, wenn die Halme auf einmal wie von Geisterhand in die Maschine gezogen wurden. Auf der hinteren Seite fiel das leere Stroh in einer nicht enden wollenden Schlange aus dem Gerät, sodass mittlerweile sechs Frauen alle Hände voll zu tun hatten, um immer wieder Platz zu schaffen. An der vorderen Seite staunte der Bauer wie schnell sich die Säcke füllten und beeilte sich um Nachschub, damit möglichst kein einziges Körnchen auf den Boden fiel und verloren ging. Keiner der Helfer hatte mehr Zeit seinen Gedanken oder Eindrücken nachzuhängen. Ohne nachzulassen hielt die Maschine alle Menschen auf vollem Trab. Unangenehm war der feine Staub, der sich auf Händen und Gesicht sammelte, in die Kleidung kroch und sich mit dem reichlichen Körperschweiß zu einer juckenden Masse vermischte.
Ohne Vorwarnung ertönte aus dem Dampfventil der gleiche schrille Pfiff, wie zu Beginn der Arbeiten, um eine Pause anzuzeigen. Der Heizer zog an einem großen Hebel, worauf die Maschine zwar noch weiter fauchte und zischte aber das Schwungrad stehen blieb.
„Brotzeit“
stellte der Maschinist lapidar fest. Die meisten Helfer bemerkten erst jetzt, wie sie sich in den letzten drei Stunden geplagt hatten und ließen sich an nahe gelegenen Plätzen nieder. Katharina und ihre zwei Söhne hatten bereits die Brotzeit vorbereitet. Jeder Helfer bekam einen großen Keil Brot, ein Stück Presssack und zwei Flaschen Bier. Nur der Heizer, dem von der Hitze seines Dampfkessels der Schweiß in Bächen von der Stirn lief, hatte auch während der Arbeit seinen Krug immer wieder nachgefüllt erhalten. Zur Feier des Tages wurden auch die mittlerweile zahlreich eingetroffenen Honoratioren und die Vertreter des Darlehensvereins zur Brotzeit und zu einem Umtrunk eingeladen. Der Bauer gesellte sich dazu und lobte die Vorzüge des Dampfdreschens über alle Maße, bis sein Blick auf die aufgereihten Kornsäcke fiel.
Bisher wurde das Getreide in kleinen Portionen auf der mit gestampftem Lehm befestigten Tenne über mehrere Wochen hinweg gedroschen. Dazu wurde eine Anzahl Ährenbüschel in der Mitte aufgelegt. Drei, vier oder fünf Männer standen im Kreis herum und schlugen mit dem Dreschflegel abwechselnd im Takt die Körner aus den Ähren. Nachdem das Stroh ausgeschüttelt und weggeräumt war, konnten die Körner zusammengefasst werden und nach dem Reinigen in der Windmaschine in Säcke gefüllt oder gleich auf dem oberen Dachboden ausgelegt werden. Kein Außenstehender konnte sich über den langen Zeitraum hinweg Vorstellungen machen wie viel Korn insgesamt geerntet wurde. Erschrocken fiel der Blick des Bauern daher auf die stattliche Ansammlung von prall gefüllten Säcken, die jeder Anwesende abschätzen und beurteilen konnte. Das wollte Hans nun auf gar keinen Fall. Niemand sollte erfahren, wie es mit seinem Einkommen oder Wohlstand bestellt war. Er gab deshalb seinem Knecht Alois den Auftrag die Säcke möglichst unauffällig in den Stadel zu bringen. Einige Säcke sollte er auch in den geheimen Stall bringen, um sie neugierigen Blicken vorzuenthalten. Nach einer halben Stunde ging die Arbeit in unveränderter Geschwindigkeit weiter. Wiederum nach drei Stunden wurde nochmals eine Brotzeit gehalten und nach weiteren zwei Stunden war der gesamte Kornvorrat gedroschen, das Feuer im Kessel gelöscht und der ganze Spuk zu Ende.
Noch tagelang wurde über den Dampf gesprochen. Viele der größeren Bauern schlossen sich der fortschrittlichen Methode des Dreschens an. In Waidhaus wurden ein eigener Maschinist und ein furchtloser Heizer angelernt. Sie erhielten anfangs einen Tageslohn von einer Mark vom jeweiligen Bauern und eine Mark aus der Dampfdreschkasse. Die Bauern zahlten pro Stunde Dampfdreschen als Mitglieder 1 Mark und 60 Pfennige und als Nichtmitglieder 2 Mark und 20 Pfennige pro Stunde. Die Befürchtungen der Taglöhner trat nicht ein. Denn während früher der Bauer mit seinem Gesinde die Drescharbeiten möglichst selbst durchführte, wurden sie nun wegen des hohen Personalbedarfs dringend gebraucht. Soviel Lohn wie beim ersten Mal auf dem Steffelbauernhof erhielten sie allerdings so schnell nicht mehr.
Leseprobe 2 - "Der Bader"
Am nächsten Morgen, als auf dem Steffelhof wieder alle Bewohner zum Frühstück zusammen saßen, war alles so wie immer. Nur der Alois war noch ruhiger als sonst und ließ seinen Kopf hängen. Der Bauer fragte ihn geradeheraus:
„Alois, was ist mit dir? Du hast gestern den ganzen Tag fast nichts gegessen. Und heute wieder nicht. Du bist doch krank.“
Als der Alois den Kopf hob, sahen alle, dass sein linker Backen geschwollen war.
„Du hast Zahnschmerzen, Alois“,
stellte Katharina fest,
„und zwar ganz schön stark. Du kennst doch alle Mittel gegen Zahnweh. Hat denn keines geholfen?“
„Ich habe wirklich schon alles probiert“,
nuschelte Alois gequält.
„Ich habe einen Splitter eines alten Wegekreuzes solange gekaut, bis nichts mehr da war, ich habe mit Branntwein und Arnikalösung gespült und verschiedene Kräuter wie Bertramswurzel und Nelken gebissen. Nichts hat geholfen. Dann habe ich versucht den Schmerz zu verbeten. Als auch das nichts half, vertrug ich den Zahnweh indem ich mit einem Hölzchen solange im Zahn gebohrt habe, bis Blut daran war. Dann habe ich das Hölzchen hinterm Haus vergraben. Aber auch das hat den Schmerz nicht weggebracht. Ich kann mir nur noch erklären, dass mir die Krankheit angehext ist oder dass ich beschrieen wurde. Dagegen kann ich nichts machen.“
Katharina entgegnete:
„Ich glaube, dass du einfach einen faulen Zahn hast, der gerissen werden muss. In deinem Alter kommt das schon vor, ohne dass man gleich verhext ist.“
Hans argumentierte in die gleiche Richtung:
„Katharina hat Recht. Du gehst am besten heute noch zum Bader und lässt dir den Zahn ziehen. Wenn die Entzündung nicht weggeht, wirst du mir noch ernstlich krank und damit ist mir nicht geholfen.“
Das Wort „Bader“ löste in Alois keine Begeisterung aus. Er kannte den alten Knochenflicker gut und wusste, dass der nicht zimperlich war. Freiwillig würde er unter normalen Umständen nicht zu ihm gehen. Aber der immer stärker werdende Zahnschmerz hatte ihn die ganze Nacht über so zermürbt, dass er sogar den Bader als kleineres Übel ansah. Er würde am besten gleich gehen und es hinter sich bringen. Im Aufstehen bemerkte er noch zum Bauern:
„Schaut`s Euch doch einmal die große Kalbin an, ich glaub die hat die richtige Hitz´n, damit man sie zum Stier bringen kann.“
„Ist gut Alois“,
antwortete Hans.
„Du gehst jetzt erst einmal zum Bader und dann legst dich nieder. Du siehst ja zum Erbarmen aus. Um die Kalbin kümmere ich mich. Ich geh gleich zum Kramerbauern, bei dem der Gemeindestier untersteht und melde mich an. Zum Treiben der Kalbin nehme ich dann die Maria mit.“
Hans ging in den Stall und überzeugte sich, dass das junge Rind soweit wäre, um zum Stier getrieben zu werden. Einige Anzeichen und eine unübersehbare Unruhe des Tieres ließen keine Zweifel aufkommen. Heute Nachmittag wäre der richtige Zeitpunkt gekommen. Die Maria wollte er erstmals mitnehmen. Sie war nun alt genug, um mit eigenen Augen zu sehen, wie die Kälbchen in die Kuh kamen. Schon seit Generationen, war dies die einzige Aufklärung, die Väter ihren Kindern zukommen ließen.
Derweilen hatte sich Alois auf den Weg zum Bader gemacht. Er hatte seine gute Joppe über seine Arbeitshose und den üblichen Schurz gezogen. Der Bader wohnte in einer kleinen Seitenstraße. Neben seiner Heilungstätigkeit betrieb er noch ein kleines Geschäft und eine Rasier- und Frisörstube. Der Bader war ein angesehener Mann, der auch in der Gemeindepolitik mitmischte. Er galt als intelligent und tatkräftig. Seine Erfahrung beim Einrichten von Knochenbrüchen, Aufschneiden von Abszessen und dem Ziehen von Zähnen bescherte ihm ein hohes Ansehen in der Bevölkerung. Fast jeder Dorfbewohner nahm seine Dienste einmal im Jahr in Anspruch, wenn er sich zur allgemeinen Gesundheitsvorsorge zur Ader lassen und sich auf dem Rücken Schröpfköpfe oder Blutegel aufsetzen ließ. Von Zeit zu Zeit ging der Bader auch in die Häuser um seine Dienste anzubieten. Die Menschen mit dringenden Angelegenheiten oder oberflächlichen Leiden kamen zu ihm in den Laden.
Als Alois das Geschäft betrat, beantwortete der Bader den Gruß seines neuen Patienten freundlich:
„In Ewigkeit Amen! Mit was darf ich dir seltenen Gast denn behilflich sein. Ah, ich sehe schon. Das Zahnweh ist so stark, dass du es nicht mehr ausgehalten hast. Der Backen ist auch schon tüchtig geschwollen. Es wird langsam Zeit, dass der Zahn raus kommt, bevor er den ganzen Körper vergiftet. An solchen üblen Geschwüren ist schon mancher gestorben.“
Bei diesen Worten trat Alois, der sonst so ruhig und gelassen wirkte, der Schweiß auf die Stirn.
„Du hast wohl ein bisschen Angst davor, was ich mit dir machen werde. Keine Sorge, meine Zahnbehandlung hat bisher noch jeder überlebt. Wichtig ist nur, dass du ruhig sitzt und dein Maul weit offen hältst, wenn ich den Zahn herausziehe. Wenn der Zahn abbricht, dann bekommen wir Probleme. Also reiß dich zusammen. Meine Tochter wird uns helfen. Jetzt setz dich erst einmal in den Stuhl und trink einen kräftigen Schluck Branntwein.“
Damit reichte er Alois eine halb gefüllte Flasche mit hochprozentigem Inhalt. Kein wenig erleichtert nahm Alois in dem lederbezogenen Sessel Platz und trank mehrere kräftige Schlucke. Der Bader ging zu einem massiven Wandschrank und holte eine mit Einlegearbeiten verzierte Holzschachtel heraus. Der außergewöhnliche Behälter wies gleich darauf hin, dass in ihm wertvolle Gegenstände aufbewahrt wurden. Tatsächlich sah Alois, wie der Bader ein dunkles Tuch entnahm und drei silbrig glänzende Zangen, einen Stichel und andere Instrumente auswickelte.
„Gretl“,
rief der Bader seiner Tochter zu,
„komm mal! Ich brauche deine Hilfe. Einem Patienten muss ein Zahn gezogen werden und der hat furchtbare Angst.“
Da der Alois seit Tagen kaum mehr etwas gegessen hatte, vernebelte ihm der starke Schnaps schnell die Sinne und er wurde etwas ruhiger. Als er dann die stämmige Tochter des Baders sah, versuchte er sogar den Schmerz zu unterdrücken, um sich vor dem vermeintlich schwachen Geschlecht keine Blöße zu geben. Gretl, die Erfahrung im Umgang mit schmerzgeplagten Patienten hatte, achtete gar nicht darauf.
„Steh doch noch mal auf“,
bat sie den Alois und als der, schon leicht unsicher, auf seinen Beinen stand, rückte sie den stabilen Stuhl etwas näher zum Fenster, um mehr Licht zu haben. Der Bader stellte einen kleinen Schemel vor den Stuhl.
„So Alois, dann komm doch einmal her“
drängte er. Mittlerweile hatte sich die Gretl in den Behandlungsstuhl gesetzt und ihre Röcke so geordnet, dass sie die Knie auseinander nehmen konnte. Der Patient wurde genötigt, sich vor dem Stuhl auf den Boden zu setzen. Dann nahm der Bader dessen Kopf und drückte ihn zwischen die Knie der resoluten Gretl. Alois, der erst jetzt begriff, was die Zeremonie bedeuten sollte, wurde ganz steif. So nah war er den Knien und Schenkeln einer jungen Frau schon seit Jahrzehnten nicht mehr gekommen. Er traute sich vor lauter Unwohlsein nicht mehr zu rühren oder zu bewegen. Zudem drückte Gretl mit einer für eine Frau nicht für möglich gehaltenen Kraft ihre Beine zusammen, dass der Kopf des Alois wie in einem Schraubstock saß. Etwas belustigt wartete der Bader, bis der entsetzte Ausdruck aus dem Gesicht von Alois gewichen war und dann befahl er ihm, seinen Mund weit aufzureißen.
„Jetzt kannst nur noch beten“,
meinte der Bader sarkastisch,
„dass ich auch den richtigen Zahn erwische. Manchmal ist das gar nicht so einfach.“
Eine Möglichkeit etwas zu erwidern, hatte Alois sowieso nicht und so ließ er den Dingen einfach seinen Lauf, indem er die Augen zusammenpresste, die Fäuste ballte und sich seinem Schicksal fügte. Er bemerkte auch nicht mehr, wie sich der Bader eine Zange griff und mit dem kühl glänzenden Stahl leicht auf einen Backenzahn nach dem anderen klopfte, bis ihn ein jäher Schmerz durchzuckte, der ihn erstarren ließ.
„Jetzt haben wir ihn gefunden“,
stellte der Bader lapidar fest und seine Tochter drückte die Schenkel noch eine Spur fester zusammen. Dann fasste er mit der Zange zu und drehte mit einer kräftigen Bewegung den Zahn mit der Wurzel heraus. Triumphierend hob er das blutverschmierte Stück Alois vor die Augen, dem jetzt auch noch schlecht wurde.
„Hab ich dir`s nicht gesagt, wenn du dein Maul kräftig aufreißt, haben wir auch keine Probleme. Heute ist dein Glückstag, weil ich dich von deinen Schmerzen und von einem faulen Zahn befreit habe. Für dieses Mal hast du es geschafft. Aber ich denke, du wirst noch öfter zu mir kommen. Die zwei Mark Behandlungsgebühr gibst du meiner Tochter.“
Nie wieder, dachte Alois, der sich völlig ernüchtert aus der Klammerung der Baderstochter befreite und nach seinem Schnupftuch suchte, das er fest auf die Backe drückte. Er beeilte sich zu bezahlen und verließ ohne ein weiteres Wort das Geschäft. Auf dem schnellsten Weg lief er nach Hause, um niemanden, den er auf der Straße treffen könnte, etwas erklären zu müssen. Auf dem Steffelhof angekommen, nahm er das Angebot des Bauern wahr und legte sich für den Rest des Tages in seine Kammer und ließ sich nicht mehr sehen.
Leseprobe 3 - "Die Rockenstube"
Zum Abendessen war der Alltag wieder gänzlich eingekehrt. Alles ging seinen normalen Gang. Die Familie verrichtete ihr Gebet, wie vor jedem gemeinsamen Essen. Die Mitglieder saßen auf ihren angestammten Plätzen. Die Mutter trug die Semmelwawa auf und stellte die Pfanne mitten auf den Tisch. Die Anwesenden nahmen ihr Besteck und löffelten bedächtig Stück für Stück aus der großen Reine. Nachdem alle gegessen hatten, war es auch der Bauer, der das Gespräch aufnahm:
„Alois, du gehst morgen nach dem Abfüttern in den Wald und nimmst die beiden Buben mit. Du kannst die umgestürzten und gebrochenen Stämme ausasten. Die Buben können die Äste zum Weg heraustragen, damit wir sie dann schneller aufladen können. Ich komme mit dem Ochsengespann zur Mittagsuppe nach. Dann können wir mit der langen Baumsäge noch einige Stämme auf Länge sägen. Ich bring dann auch die Zilli und die Maria mit, die die vorhandene Streu zusammenrechen und den Buben beim Stapeln der Äste helfen können.“
Damit war alles gesagt und der Bauer stand nach dem Dankgebet auf, um sich anzuziehen und ins Wirtshaus zu gehen. Er wollte mit seinen Helfern die Einzelheiten für Übermorgen besprechen. Die beiden Mädchen, Maria und Zilli, nahmen ihre Spinnräder und die vorbereiteten Rocken und machten sich auf den Weg zum Wastlhof, der etwa drei Anwesen weiter entfernt lag.
Als sie die Stube betraten waren die Wastlbäuerin und zwei ältere Witwen bereits unter dem Herrgottswinkel bei der Arbeit. Der große Küchentisch war etwas in die Mitte gerückt worden, wo er allen Anwesenden als Ablage oder Arbeitsfläche dienen konnte. Drei jüngere Dirnen hatten es sich schon neben dem Kachelofen auf Stühlen oder Schemeln bequem gemacht. Maria und Zilli nahmen Weihwasser aus dem Kessel neben der Türe, bekreuzigten sich und vergaßen auch den Tropfen für die armen Seelen nicht. Zu den Anwesenden gewandt sprachen sie gemeinsam:
„Gelobt sei Jesus Christus.“
Worauf die übrigen Frauen wohlwollend antworteten:
„In Ewigkeit Amen.“
„Nehmt euch zwei Hocker und setzt euch zu den anderen Mädchen“,
lud sie die Wastlhofbäuerin ein.
„Die lange Bank lassen wir unseren späteren Hutschagästen, die uns nur zur Sitzweil besuchen wollen und nicht zum Arbeiten.“
Während Maria und Zilli ihre Spinnräder aufstellten, nahmen die anderen Frauen, ihre Arbeit wieder auf. Die Räder surrten leise, angetrieben von den auf- und abwippenden Füßen der Frauen. Während eine Hand den Flachs vom Rocken auf Spannung hielt, zogen Daumen und Zeigefinger der anderen Hand die Fasern möglichst gleichmäßig auf die gewünschte Stärke, bevor sie auf die Spule glitten, die das Garn aufdrehte und an die Haspel weiterleitete. Jeweils tausend Umdrehungen der Haspel zeigten einen Strang an. Solche Stränge würden sie nun bis zum Frühjahr, je nach Witterung etwa bis Lichtmess, noch in großer Zahl fertigen, um sie dann vom Weber je nach Qualität zu feinen oder groben Stoffen weben zu lassen.
Im Gegensatz zu der Kienleuchte auf dem Steffelhof, die unter einem eigenen Kamin hing, gab es in der Stube auf dem Wastlhof noch das althergebrachte Spanlicht, bei dem die Kienspäne an einer hölzernen Säule in aufgespaltene eiserne Stäbe gesteckt wurden. Um die Rauchbildung in Grenzen zu halten, verwendete die Bäuerin nur harzfreies Kiefernholz. Dazu wurden die astfreien Kiefernholzscheite wochenlang in Wasser eingelegt und dann wieder getrocknet. Während man bei der Kienleuchte nur drei Kienspreißel benötigte um eine Stube einigermaßen zu erhellen, brauchte man für das Spanlicht im Wastlhof mindestens acht Spreißel um genügend Licht zum Arbeiten zu bekommen. Zudem musste an den Spreißeln dauernd gerichtet werden, damit sie gleichmäßig abbrannten. Ringelte sich die Asche nämlich nach oben, war das ein Hinweis auf eine Hochzeit oder Kindstaufe im Kreise der Anwesenden. Beugte sich die Asche stark nach unten, dann würde es einen Todesfall geben und daran wollte Niemand schuld sein. So wurde alle Augenblicke an den Spänen gezogen und gerichtet. Die Asche und kleine Kohlestückchen fielen ungehindert auf den Fußboden. Waren kleine Kinder in der Stube, so machte es ihnen Spaß in der Asche herum zu rutschen und auch kleine Kohlestückchen zu lutschen. Niemand hinderte sie daran, da dies schon seit Menschengedenken so üblich und der Entwicklung der Kinder augenscheinlich sogar förderlich war. Ganz ohne Rauchentwicklung ging es natürlich auch bei dem trockensten Holz nicht ab. Aber daran hatte man sich gewöhnt. Viel wichtiger war, dass es in der Stube schön warm war.
Nach und nach kamen noch weitere Mädchen aus der Nachbarschaft, so dass nach kurzer Zeit insgesamt zwölf Frauen in der Rockenstube beschäftigt waren. Maria und Zilli hatten zwischenzeitlich ihre Spinnräder aufgebaut und den Rocken befestigt. Dann galt ihre volle Konzentration der Arbeit. Nach der langen Sommerpause war es gar nicht einfach, wieder in die feinfühlige Arbeit hineinzufinden und einen annehmbaren Faden zu drehen. Einmal war die Spule zu schnell, weil sich die Füße noch nicht an einen bestimmten Rhythmus gewöhnt hatten, dann schafften es die Finger nicht, die Fasern gleichmäßig und rechtzeitig zu ziehen und der Faden riss und musste erst wieder sorgfältig verknüpft werden. Erst langsam gewöhnten sich die Mädchen an das Zusammenspiel der Hände und der Mechanik und es dauerte noch den ganzen Abend bis die Rädchen gleichmäßig liefen und die flinken Finger genauso viel Flachs zogen, wie die Spule für einen gleichmäßigen sauberen Faden brauchte. Sie waren an diesem Tag viel zu beschäftigt, um an den Gesprächen, vornehmlich der älteren Frauen, teilzunehmen, die sich darum drehten, wer den Sommer über welches Unglück gehabt hatte, wer unter welchen Umständen heiratete, wer verstorben war und wie sich die Hinterbliebenen verhielten.
Zu ihrem Bedauern hatten Maria und Zilli vergessen, sich etwas zum Naschen mitzunehmen. Die beiden Finger, mit denen der Flachs gezogen wurde, mussten regelmäßig mit der Zunge benetzt werden und so war es gut, wenn man etwas zu kauen hatte, was den Speichelfluss förderte, entweder getrocknete Beeren oder klein geschnittene Äpfel oder Birnen. Die Wastlbäuerin hatte dafür bereitwillig mit etwas rohem Sauerkraut ausgeholfen. So verging der erste Abend sehr schnell, ohne dass sich etwas Besonderes ereignete. Gegen zehn Uhr gingen die Mädchen müde aber etwas enttäuscht wieder nach Hause.
Leseprobe 4 - "Der Gemeindeausschuss"
Währenddessen verhandelten die gewählten Bürger im Gemeindeausschuss schwere Probleme. Josef Königer, der junge Lehrer, hatte es gerade noch geschafft, rechtzeitig aus Vohenstrauß zurück zu kommen. Er war zwar noch ganz verschwitzt und von dem aufgeweichten Boden der unbefestigten Straßen und Wege leidlich verschmutzt, aber das fiel nicht weiter auf. Bis die Ausschussmitglieder zum Rathaus kamen, mussten sie alle durch den feuchten klebrigen Schlamm der ungepflasterten Nebenstraßen und teilweise über den aus den Anwesen sickernden Odel steigen. Die Landwirte unter ihnen hatten zwar ihren Ausgehrock angezogen, sich selbst aber keiner grundlegenden Reinigung unterzogen. Ein kräftiger Stallduft lag deshalb im Sitzungsraum. Auch alle anderen Berufsstände hatten ihren typischen Geruch, ob Gerber, Wagner oder Schuhmacher. Übertroffen wurden diese Gerüche noch von den scharfen Ausdünstungen des Schmiedes nach verbrannten Haaren und Horn, wie sie beim Beschlagen der Pferde entstehen. Zudem war das Sitzungszimmer von einem dichten grauen Rauchschleier eingehüllt, der aus den frisch angezündeten Pfeifen oder von den billigen Zigarren kräuselte. Dazu kam noch, dass bei dem feuchten und kühlen Wetter der Holzofen nicht recht zog, den der Gemeindediener schon vor zwei Stunden angeschürt hatte und ebenfalls einen Teil des beißenden Holzrauches an das Sitzungszimmer abgab. So brauchte sich Joseph keine Sorgen zu machen, unangenehm aufzufallen. Hauptsache, er war rechtzeitig da, um, wie ihn der Bürgermeister gebeten hatte, das Protokoll zu schreiben. Schließlich wollte er ja in Kürze die Nachfolge des Gemeindeschreibers antreten.
Pünktlich eröffnete Bürgermeister Lederer die Sitzung. Aus dem Protokollbuch verlas er die Einleitung:
„Zur Beratung und eventuellen Beschlussfassung in der jeweils bezeichneten Sache wurden vom Bürgermeister zu der auf heute anberaumten Ausschusssitzung die sämtlichen Ausschussmitglieder gemäß Art. 145 der Gemeindeordnung, respektive Art. 47 derselben, richtig geladen. Von den Geladenen sind 11 Ausschussmitglieder erschienen, so dass die beschlussfähige Zahl anwesend ist. Schriftführer ist der Schulmeister Joseph Königer, dem ich danken möchte, dass er für den erkrankten Hauptlehrer eingesprungen ist. Bei Eignung als Protokollführer sollten wir überlegen, ob wir ihn nicht als künftigen Gemeindeschreiber weiterbeschäftigen. Aber jetzt, Männer, fangen wir erst einmal an. Wir haben eine Menge Punkte auf der Tagesordnung. Der Gemeindediener holt uns derweilen ein paar Flaschen Bier.“
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:
„Der Heureicher Schorsch will heiraten. Hat jemand etwas dagegen? Nein? Dann schreibst ins Protokoll: Mit 11 zu 0 Stimmen wurde beschlossen: Gegen die Verehelichung des Sägearbeiters Georg Heureicher, geboren am 12. Januar 1866 zu Waidhaus, katholischer Religion mit der Häuslertochter Maria Solfrank von Isgier geboren am 10.Februar 1871, katholischer Religion, besteht kein im Artikel 31 des Gesetzes über die Heimat, Verehelichung und Aufenthalt begründetes Einspruchsrecht und ist ihm die benötigte Erklärung auszufertigen.“
„Der nächste der heiraten will ist der Grötsch Adam“,
fuhr der Bürgermeister nach kurzer Pause weiter. Sogleich tönte es aus dem Gremium:
„Was will das Bürschchen? Heiraten. Der soll erst einmal seine Schulden bezahlen. Hat ja mit seinen 19 Jahren noch nicht einmal die Militärzeit abgeleistet. Was ich gehört habe, ist seine Braut zehn Jahre älter und hat schon zwei Kinder. Sie stammt übrigens aus Pleystein. Wenn wir da zustimmen, haben wir die Frau und die Kinder im Ort und auf unserer Tasche liegend.“
Ein zustimmendes Gemurmel am Tisch unterstrich die allgemeine ablehnende Haltung der Ausschussmitglieder.
„Also schreiben wir in das Protokoll“,
wandte sich der Bürgermeister an den Schriftführer,
„gegen die Verehelichung des Braugehilfen Adam Grötsch, geboren am 19. Mai 1881 in Waidhaus mit der Köchin Therese Kuchler, geboren am 25. Dezember 1870 in Pleystein, protestantischer Religion wird Einspruch erhoben und zwar aus folgenden Gründen:
Hat Grötsch seiner Militärpflicht noch nicht Genüge geleistet und muss dessen Familie, nachdem die Braut bereits zwei außereheliche Kinder hat, während der Militärzeit der Armenpflege zur Last fallen.
Außerdem hat die Gemeinde für den Antragsteller das Schulgeld bezahlen müssen, das noch nicht zurückerstattet ist.
Zum weiteren verursacht der Vater des Grötsch der Armenpflege alljährlich Kosten und hat es der Sohn desselben noch nicht der Mühe wert gefunden, seine Eltern zu unterstützen.“
„Wo das Geld ist, ist der Teufel,
wo keines ist, ist er gleich zweimal“,
bemerkte der Schuhmacher Johann Hierold,
„mit dem Adam werden wir noch einige Freude haben. War der Vater schon ein Tunichtgut, wird der Sohn nicht weit vom Stamm gefallen sein.“
„Wer zum Bettelsack geboren ist, bringt´s zu keinem Ranzen“,
stieß der Privatier Ludwig Nickl in das gleiche Horn,
„Bettelleut und frühe Gewitter kommen gern zweimal und wie der Vater so der Sohn.“
„Jetzt hebt euch eure Sprüche doch für das Wirtshaus auf“,
bat Bürgermeister Lederer, der wieder zur Tagesordnung zurückkehren wollte.
„Seit dem Brand in Pleystein werden wir von der Bezirksregierung bald jeden Tag mit einer neuen Vorschrift oder Anordnung traktiert. Als erstes sollen wir eine ortspolizeiliche Vorschrift erlassen. Na ja, die kostet nichts und tut nicht weh. Ich schlage vor, dass wir zustimmen. Also Joseph, schreib ins Protokoll:
Erlass einer ortspolizeilichen Vorschrift, dass es verboten ist, leichtentzündliche Stoffe, insbesondere Zündhölzer, in einer Weise aufzubewahren, dass sie Kindern, Blödsinnigen, Wahnsinnigen und Betrunkenen zugänglich sind.“
Der Bürgermeister nahm ein weiteres Schriftstück aus der vor ihm liegenden Akte und berichtete:
„Jetzt wird es schon interessanter. Die Bezirksregierung möchte, dass wir an der Telegraphenstation einen Alarmapparat anbringen lassen und die Kosten von fünfzig Mark selbst bezahlen.“
Sofort kam der Einwand von Ökonom Joseph Rauch:
„Jetzt haben wir erst in der vorletzten Sitzung einen neuen Nachtwächter angestellt, dem wir Sage und Schreibe dreihundert Mark im Jahr bezahlen müssen, damit er das Geschäft eines Nacht- und Flurwärters ausübt und die paar Laternen anzündet und löscht. Der wäre ja dann überflüssig.“
Bader Adreas Hilburger hielt entgegen:
„Der Alarmapparat ersetzt den Nachtwächter doch nicht. Im Gegenteil, der soll den Apparat ja auslösen, wenn er Feuer bemerkt. Der Alarm ist dann viel lauter, wie jeder Nachtwächter je schreien könnte, um Anwohner warnen und Helfer bis aus den Nachbargemeinden informieren zu können.“
„Ich habe den Nachtwächter bisher noch immer gehört. Manchmal viel zu oft, wenn ich nicht einschlafen kann und er seine Runde dreht, dass die Stiefel nur so auf dem Pflaster scheppern und er ein um das andere Mal sein Lied plärrt, weil von Singen kann man bei unserem Nachtwächter beim besten Willen nicht reden“,
meinte der Schneidermeister Joseph Striegl und hub mit krächzender Stimme das Nachtwächterlied an:
„Geehrte Herrn und Damen lasst euch sagen,
der Hammer auf dem Turm hat 12 geschlagen.
Bewahrt das Feuer und das Licht,
damit kein Schaden irgendwo geschieht.“
Allgemeines Gelächter folgte diesem Singversuch und in der folgenden Diskussion zeigte sich, dass die Mitglieder von dem Alarmapparat schon angetan waren, aber nichts dafür bezahlen wollten. Deshalb musste man so tun, als bräuchte man das Gerät nicht. Insgeheim hoffte man, dass die Regierung den Apparat dann ohne Kostenbeteiligung der Gemeinde anbringen würde. Der Bürgermeister fasste die Argumente für das Protokoll zusammen:
„Die Anbringung eines Alarmapparates an der hiesigen Telegraphenstation wird nicht für notwendig und zweckmäßig erachtet und deshalb wird der verlangte Zuschuss von 50 Mark zur Errichtung nicht genehmigt und zwar aus folgenden Erwägungen:
Die Löscheinrichtungen der Gemeinde sind derartige, dass auf Hilfe von den größeren Ortschaften, große Brände ausgenommen, verzichtet werden kann. Die Lage in Waidhaus ist eine solche, dass ein Brand von den zum Löschbezirke gehörenden Ortschaften gesehen werden kann. Zum Dritten ist Waidhaus bei einem Brande auf die Hilfe der Böhmen angewiesen, die auch stets geleistet wurde. Die Böhmen könnten durch den Apparat aber nicht verständigt werden.“
Während Königer den Beschluss niederschrieb, hatte bereits wieder eine allgemeine Unterhaltung eingesetzt. Wieder musste der Bürgermeister mit einem lauten
„Männer horcht`s wieder her, wir sind noch nicht fertig“
für Aufmerksamkeit sorgen.
„Die Genehmigung für den Pflasterzoll ist abgelaufen. Wir sollten wieder einen Antrag stellen, damit die Genehmigung verlängert wird.“
„Was nehmen wir denn durch den Pflasterzoll ein?“
Der Fragende ergänzte noch:
„Ich habe gehört, dass die Reisenden immer dreister werden und einfach nicht mehr anhalten und somit den fälligen Zoll schuldig bleiben. Die neumodischen Benzinkutschen fahren sowieso immer durch.“
Der Bürgermeister meinte dazu nur:
„Das kann uns eigentlich wurscht sein. Der Pflasterzoll ist derzeit für 521 Mark im Jahr verpachtet. Dieses Geld bekommen wir auf jeden Fall. Wenn der Pächter nicht aufpasst und schläft, wenn die Händler durchziehen, dann ist das seine Schuld.“
Es bedurfte keiner großen Diskussion mehr, bis der Vorsitzende den einstimmig gefassten Beschluss formulieren konnte:
„Gesuch an das königliche Staatsministerium des Innern um Genehmigung zur Forterhebung des Pflasterzolles von 1901 bis 1906. Im Markte Waidhaus ist der Pflasterzoll in der bisherigen Weise und genehmigten Tarife zu erheben und zwar
von jedem Pferd 6 Pfennige
von jedem Stück Hornvieh und Esel 3 Pfennige
von Jung- und Kleinvieh, als da Kälber, Schafe, Schweine und Ziegen sind, das Stück 2 Pfennige
Von jedem beladenen Schubkarren 2 Pfennige
Die Dienstpferde der aktiven Beamten und Offiziere sowie die musterungspflichtigen Pferde sind von der Entrichtung des Pflasterzolles befreit.
Als Grund für die Verlängerung der Genehmigung wird angegeben, dass das Straßenpflaster reparaturbedürftig ist und soll durch ein Neues ersetzt werden. Die Herstellung des Pflasters erfordert den Aufwand von rund 11.000 Mark und soll dieser Betrag durch die Aufnahme eines Anlehens teilweise Deckung finden, welches durch den Pflasterzoll verzinst und abgetragen werden soll.“
„Und dann haben wir noch einen letzten Antrag. Der Jakob Weig möchte beim Bahnhof eine Wirtschaft aufmachen. Der Jakob ist ein ehrenwerter Bürger, der könnte so eine Lokalität schon führen und zu einem gescheiten Bahnhof gehört auch ein Wirtshaus. Für die Erteilung der Wirtschaftskonzession sind wir nicht zuständig aber wir müssen unser Einverständnis geben. Was meint ihr denn dazu?“
Alle Anwesenden fanden, dass man gegen den Jakob nichts sagen könnte und dass zu einem Bahnhof unbedingt eine Lokalität gehörte. Man würde sich ja sonst im Vergleich zu anderen Bahnhöfen blamieren. So diktierte Lederer den letzten Beschluss, entsprechend einem Muster, das sich noch aus einem früheren Verfahren in den Akten befand:
„Gegen den Antragsteller liegen keinerlei Tatsachen vor, welche die Annahme rechtfertigen würde, dass der Gesuchsteller das Wirtschaftsgewerbe zur Förderung der Völlerei, der Hehlerei, des verbotenen Spieles oder der Unsittlichkeit missbrauchen würde.
Die vorhandenen Lokalitäten genügen den ortspolizeilichen Anforderungen. Die Frage des Bedürfnisses ist zu bejahen, da die Lage der Lokalität in der Nähe der Bahnstation zu einer Wirtschaft geeignet ist und dem reisenden Publikum Gelegenheit gegeben ist, sich in der Nähe der Bahn Speisen und Getränke verschaffen zu können.“
Bürgermeister Lederer wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.
„Das haben wir wieder einmal geschafft. Wenn wir in ein paar Tagen noch die Einweihung der Eisenbahn hinter uns gebracht haben, haben wir hoffentlich wieder etwas Ruhe. Aber ich befürchte, dass die hochehrwürdige Bezirksregierung immer wieder etwas findet, mit dem sie uns traktieren und beschäftigen kann. Jetzt gehen wir aber erst einmal zum Kreuzwirt und genehmigen uns eine frische Mass und eine Brotzeit.“
Zustimmend nickend erhoben sich die Ausschussmitglieder von ihren Plätzen. Der Ökonom Joseph Solfrank griff im Hinausgehen nochmals die geplante Hochzeit von Adam Grötsch mit der Therese Kuchler auf.
„Was zusammengehört, kommt auch zusammen und müsst´s der Teufel auf dem Schubkarren zusammenfahren“,
meinte er.
„Gegen das Zusammenkommen haben wir auch nichts, nur gegen das heiraten“,
ergänzte Hilburger,
„weder die Kuchler noch der Grötsch haben eine feste Anstellung. Wenn wir die beiden heiraten lassen, nisten sie sich in der Wohnung des Alten ein. Der junge Ehemann geht zum Militär und wir können seine Frau und die Kinder mit der Fürsorge durchbringen. Dabei ist der Adam kein schlechter Mensch. Wenn er arbeitet, werkelt er wie ein Wilder. Aber wenn er dann Geld in seinen Händen hält, ruht er nicht eher, bis er das ganze Geld versoffen hat. Wie sagt er immer: Besser zu Tode getrunken, als zu Tode gemäht, da braucht man nicht so oft wetzen.“
„So geht es vielen Leuten“,
stellte Kaufmann Bartl Bodensteiner wissend fest,
„das Geld fliegt zum einen Fenster herein und zum anderen wieder hinaus. Der Adam ist halt wie sein Vater, ein Narr. Einem Narren und einem Fuder Heu muss man ausweichen. Aber zu jedem Menschen kommt das Glück einmal im Leben. Deshalb soll der Adam erst einmal seinen Wehrdienst ableisten und wenn er sich dann die Hörner abgestoßen hat, kann er ja noch einmal einen Antrag stellen. Außerdem hat die Heirat momentan sowieso keinen Taug, denn wo die Not zur Türe hereinschaut, geht die Liebe zum Fenster hinaus und das war schon immer so.“
„Wie geht es denn dir“,
wandte er sich an den Wagner Anton Brenner,
„ich habe gehört, du warst krank“.
„Na ja, was soll ich sagen“
seufzte der Angesprochene,
„wer keine Sorgen hat, hat auch keine Freude“.
„Das größte Kreuz tut sich der Mensch meist selbst auf,“
meinte Bodensteiner der sich in das Gespräch einmischte,
„du arbeitest zu viel. Du solltest dir einen Gesellen einstellen. Ein Lehrling genügt nicht, vor allem wenn ihn die Meisterin die meiste Zeit im Haushalt und in der Landwirtschaft braucht.“
„In manchen Zeiten schaut halt die Arbeit von allen Winkeln hervor. Da könnte ich schon noch eine Hilfe brauchen. Wenn es nur einen guten Gesellen gäbe, würde ich ihn schon einstellen“,
meinte Brenner.
„Als Kaufmann komme ich viel herum. Ich kann ja mal meine Verbindungen ausspielen. Wenn ich von einem guten Wagnergesellen höre, sage ich dir Bescheid. Bis dahin musst du es eben ein bisschen langsamer angehen lassen.“
Mittlerweile kamen sie bei der Gastwirtschaft an und Brenner schloss das Gespräch:
„Jetzt trinken wir erst einmal einen Schluck und dann schaut die Welt gleich wieder ganz anders aus. Ich bin einmal gespannt welche Nichtsnutze heute wieder die Wirtschaft bevölkern. Gestern habe ich mir am späten Vormittag im Scharfen Eck eine Mass gekauft, weil ich was zu erledigen hatte. Sitzt da ein ganzer Tisch junger Burschen und sogar einige Familienväter am helllichten Tag beim Bier und zechen lustig drauf los. Was ist das für eine Welt, wo die Taglöhner und Häusler tagsüber trinken und den Herren herauskehren und ein rechtschaffener Handwerksmeister sich zu Tode arbeiten muss. Da müsste man mal etwas durchgreifen.“